Edith Kraus

                                                       Tondokument

Edith Kraus lernte Kestenberg im Jahre 1933 persönlich kennen, als dieser mit der ersten Emigrationswelle nach Prag kam. Dort hatte er viele Freunde in Intellektuellen und Künstlerkreisen, einschließlich Max Brod und Franz Kafka. In einem dieser Kreise traf er Edith Kraus.

Kraus schätzte Kestenberg sehr. Er sei lebhaft, klug und gut in der Menschenführung gewesen. Kestenberg wiederum erkannte in ihr die hochbegabte Schülerin Arthur Schnabel. Es kam bald zur Zusammenarbeit. Sie spielten im tschechischen Radio das Concerto pathétique von Liszt.

Überdies wirkte Kraus als Pianistin eines im Hause Kestenberg veranstalteten Musiksalons. Dieser Salon wurde von Paula Seelig, einer Bankiersgattin, für die Damen der höheren Gesellschaft organisiert. Während Kestenberg dort seine Vorträge zur Musikgeschichte hielt, spielte Kraus die Musikbeispiele ein. Etwas ähnliches machte Kestenberg im Bert Brecht- Club. Dort spielte er die Musikbeispiele zu seinen Vorträgen jedoch selbst (Quelle: Lenka Reinerová)

Über Kestenbergs Klavierstil sagt Kraus: Er spielte sehr gut, orchestral, war in Rhythmik und Pedaltechnik freier und benutzte nicht viel "piano". Er sei in der Prager Zeit jedoch etwas aus der Übung gewesen. Bis auf die halböffentlichen Auftritte wie etwa im Bert-Brecht-Club konzertierte er nicht mehr öffentlich.

Kraus erinnert ebenfalls, daß Kestenberg sogleich eine wichtige Stelle im "Toskanischen Palais" am Prager Regierungsberg, dem Hradschin, erhielt - deshalb wurde Kestenberg im Volksmund bald auch "Toskanini" genannt. - Kestenberg widmete sich in Prag vor allem dem Aufbau der Internationalen Gesellschaft für Musikerziehung (heute: ISME). Schon bald wurde für ihn ein Zentralinstitut für Musikpädagogik eingerichtet. Von dort aus organisierte er die ersten drei Kongresse der Internationalen Gesellschaft für Musik, in Prag, Paris und in der Schweiz.

Im Jahre 1938 emigrierte Kestenberg mit seiner Familie über Paris nach Palestina. Kraus, die sich zum Bleiben entschieden hatte, wurde wenige Jahre später mit ihrer Familie ins nationalsozialistische Vorzeige-Ghetto Theresienstadt deportiert, wo sie eine pianistische Karriere ums nackte Überleben begann. Nachdem Theresienstadt im Jahre 1945 durch die Russen befreit wurde, kehrte sie nach Prag zurück und immigrierte 1949 nach Israel, wo sie bald darauf Mitglied und später Klavierprofessorin der Tel Aviv Music Academy wurde. Eine erneute Zusammenarbeit mit Kestenberg kam nicht mehr zustande.


Edith Kraus wird internal geachtet als Interpretin tschechischer Klaviermusik und der Werke Victor Ullmanns
Geboren 1913 in Wien, als Tochter tschechischer Eltern aus der Nähe von Jihlava (Iglau). Der Vater hatte ein Wäschegeschäft in Wien und eröffnete eine Filialie in Karlsbad. Seit ihrem sechsten Lebensjahr wächst sie in Karlsbad auf. Kontakt mit der Musik bekommt sie durch den Klavierunterricht ihrer älteren Schwester.
1919 Umzug der Familie zurück nach Tschechien, nach Karlovy Vary (Karlsbad)
1920-1926 erster Klavierunterricht im Alter von sieben Jahren, nachdem sie bereits zwei Jahre ohne Anleitung alle Stücke ihrer um sieben Jahre älteren Schwester aus dem Gehör nachgespielt hatte. Sie macht schnelle Fortschritte und spielt im Alter von 11 Jahren Mozarts Klavierkonzert in c-moll mit dem Karlsbader Orchester. Als Wunderkind geltend spielt sie verschiedenen Musikgrößen des damaligen Musiklebens vor, so auch Alma Mahler (sie schreibt einen Empfehlungsbrief an Artur Schnabel) und Leo Blech, Dirigent der Kroll-Oper Berlin ("also jeder wußte, wer Leo Blech ist, zu meiner Zeit"). Er hört ihr Spiel und schreibt einen Empfehlungsbrief an den Direktor der Berliner Musikhochschule, Franz Schreker: "(...) Ich glaube, ich tue Dir und Deiner Schule einen Gefallen, wenn ich Dir diese große Begabung schicke (...)."
1926 Privatschülerin von Arthur Schnabel in Berlin, einem der renommiertesten Lehrer der Berliner Hochschule der Künste, von dessen Assistenten Alfred Schröder sie zunächst unterrichtet wird. Edith Kraus ist dreizehn Jahre alt
1927 -30 jüngste Studentin in Artur Schnabels Klaviermeisterklasse an der Berliner Hochschule der Künste Sie ist befreundet mit Luise Wolf, von der sie Karten für die Sonntagskonzerte bekommt, in denen sie u.a. Bruno Walter, Furtwängler und den jungen Horowitz erlebt. Auch Kestenberg ist ihr in dieser Zeit ein Begriff. Er hat einen guten Ruf, wird aber seit Mitte der zwanziger Jahre in Politikerkreisen kritisiert.
1930 Nach dem Studium geht Edith Kraus nach Prag, wo sie Konzerte gibt. Sie findet ein lebhaftes, interessantes Musikleben vor.
1933 Heirat mit Karl Steiner. In dieser Zeit ändert sich bereits das politische Klima in Prag. Mit der ersten Emigrationswelle kommt auch Kestenberg, mit dem sie bald darauf zusammenarbeitet.
1939 Böhmen muß sich als deutsches Protektorat den immer strenger werdenden Verboten für Juden fügen: Besitz wird beschlagnahmt, Wohnungen werden geräumt, Juden dürfen nicht ins Theater oder Kino, nur noch zu bestimmten Zeiten auf die Straße und werden mehr und mehr drangsaliert .
1942 Deportation mit ihrem Mann nach Theresienstadt
1942-1945 Dort ist sie bis zur Befreiung des Lagers eine der erfolgreichsten und aktivsten Pianist(inn)en. "Nirgends auf der Welt geht man montags in ein Büro und bekommt sein ganzes Wochenprogramm. Montag spielst du da, Dienstag spielst du dort; die ganze Woche war ich mit Konzerten beschäftigt. Das hat mir natürlich sehr über die Zeit hinweggeholfen, ich konnte täglich eine Stunde üben, später sogar zwei, je mehr Klaviere da waren." Dies muß ausreichen, um täglich, mit wechselnden Programmen, konzertieren zu können. Sie übt auch ohne Klavier, im Kopf, auf ihrer Lagerstatt oder auf einer Bank im Hof. "Diese Stücke sitzen am besten, da sie nicht mechanisch gelernt wurden." Freundschaft mit dem Komponisten Viktor Ullmann (1944 ermordet), der sie bittet, seine sechste Sonate uraufzuführen.
1944 Sie verliert ihre Familie bei den sogen. großen Oktobertransporten und bleibt allein in Theresienstadt zurück
1945 Befreiung Theresienstadts durch die Russen. Rückkehr nach Prag. Sie hofft, ihre Familienangehörigen wiederzufinden. Doch bald muß sie erkennen, daß sie ihren Vater, ihren Ehemann, die Schwester, die Schwägerin, die Schwiegermutter und viele andere Verwandte und Freunde für immer verloren hat. Sie beginnt wieder zu musizieren und zu unterrichten.
1946 zweite Ehe, im selben Jahr Geburt der Tochter
1949 Auswanderung nach Israel mit ihrem zweiten Mann und ihrer Tochter. Es ist mühsam, sich in Israel eine neue Existenz aufzubauen. Ihr Mann arbeitet in einer Färberei, Edith näht zunächst Krawatten, bekommt aber bald die Möglichkeit, zu konzertieren und privat zu unterrichten.
seit den 50ger Jahren  Eintritt in die Musikakademie von Tel Aviv, die später der Universität angeschlossen wird. Dort wird sie Professorin für Klavier und leitet eine Meisterklasse. Kraus gilt als Vertreterin der sogenannten "deutschen Schule des Klavierspiels". Sie legt mehr Wert auf echte Musikalität und Werktreue als auf Virtuosität
seit 1981 Pensionierung. Edith Kraus widmet sich intensiv der Musik der sogenannten Theresienstädter Komponisten, macht CD-Einspielungen, hält Vorträge in verschiedenen Ländern und wirkt bei TV-Dokumentationen mit.
1994 Schlaganfall. Edith kann unglücklicherweise nicht mehr selbst Klavier spielen. Sie unterrichtet trotzdem auch weiterhin, wie zum Beispiel junge Musiker aus Deutschland, Tschechien und Israel im Rahmen der internationalen Meisterkurse "Music, History & Remembrance". Für den 4. internationalen Meisterkurs kommt Edith Kraus trotz jahrzentelanger Weigerung erstmals wieder nach Deutschland.
 2003  Besuch in Wien: dort Leitung eines Meisterkurses an der Universität für Musik und darstellende Kunst und Teilnahme an Zeutzeugengesprächen in der Jüdisch-Liberalen Gemeinde, Or Chadasch, sowie am Institut für Wissenschaft u. Kunst.
  2004  Ehrenvorsitz in der Jury der Klavierwertungen des Musikwettbewerbs „Verfemte Musik 2004", der vom Landesverband „Jeunesses Musicales Mecklenburg-Vorpommern" seit 2001 in Schwerin ausgetragen wird.

Quellen:

Interview mit Edith Kraus, Schwerin, 23.9.04, Autorin: Susanne Fontaine, unveröffentl.

Interview mit Edith Kraus, Jerusalem 23.6.2005, Autorinnen: Ann Kathrin Seidel und Theda Weber-Lucks. Das vollständige Interview ist einzusehen in: Archiv der Universität der Künste, Berlin.

Begegnung mit Jahrhundertzeuginnen. Die Pianistinnen Edith Kraus und Alice Herz Sommer. Von Friederike Haufe und Volker Ahmels, nmz 2004/03, 53. Jahrgang, Seite 3;
http://www.nmz.de/nmz/2004/03/feature-kraus.shtml

Pianistin befragt Pianistin. Friederike Haufe trifft Edith Kraus in Jerusalem, in: Nmz „Neue Musik", 48. Jg., Ausg. 06 Juni 1999, S.31, http://www.nmz.de/nmz/nmz1999/nmz06/rumpf/haufe.shtml

Edith Kraus, Biographie, in: MUGI-Musik und Gender im Internet, Hochschule für Musik und Theater Hamburg
http://mugi.hfmt-hamburg.de; E-Mail: mugi@hfmt-hamburg.de